«Behindertenpolitik ist kein Nischenthema»

Islam Alijaj ist 37 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl und seit letztem Jahr im Zürcher Gemeinderat. Er wohnt und mit seiner Frau und seinen zwei Kindern beim Hubertus. Mit seinem Verein «Tatkraft» setzt er sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderung ein, ab Herbst würde er sich gerne im Nationalrat für Behindertenrechte einsetzen.

Das Gespräch mit Islam Alijaj führte Anna Luna Frauchiger.

 

2022 wurdest du für die SP9 in den Gemeinderat gewählt. Die Arbeit für dich dort ist aber ohne die nötige Unterstützung schwierig. Kannst du erzählen, weshalb?

Eigentlich liegt mir die Arbeit: Im Parlament muss man eigene Ideen entwickeln, mit den Leuten sprechen, und Allianzen schmieden. Darin bin ich gut. Aber damit ich das äussern kann, was in meinem Kopf passiert, brauche ich eine Verbalassistentin. Sie muss meine Sprechbehinderung egalisieren, und auch mal Kleinigkeiten für mich erledigen: Meinen Stuhl richtig einstellen, Wasser holen, eine Email schreiben. Das ist alles umständlich für mich alleine. In einer idealen Welt hätte ich Zeit, das alles allein zu erledigen, aber im heutigen Politzirkus muss man einfach funktionieren können.

Trotz den erschwerten Bedingungen bleibst du im Gemeinderat und kandidierst bereits zum zweiten Mal für den Nationalrat. Woher nimmst du die Energie dafür?

Bei meinen Kindern, bei meiner Familie. Ich will nicht, dass meine zwei Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, in der ihr Vater als minderwertig angesehen wird. Das kann ich nicht hinnehmen. Ich habe eine hohe Geschwindigkeit im Moment und manchmal bezahle ich auch körperlich auch einen Preis für mein Engagement. Ich war in den Sommerferien deshalb für drei Wochen in der Reha.

Und das nimmst du in Kauf?

Ich muss, denn sonst verändert sich nichts. Ich will nicht mehr warten, bis andere etwas verändern. Wir Menschen mit Behinderungen müssen selbst mit am Tisch sitzen. Im Gemeinderat habe ich in kurzer Zeit viel erreichen können, was man noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte.

Was ist für dich der grösste Erfolg im Gemeinderat?

Da gibt es einige. Zum Beispiel eine erfolgreiche Behördeninitiative, durch die die Stadt beim Kantonsrat intervenieren muss, um das Stimmrecht für Menschen unter Beistandschaft auf kommunaler Ebene einzuführen. Weiter konnte ich die Stadt beauftragen, einen Fonds zu äufnen, um KMU und Organisationen bei der Umsetzung von Barrierefreiheit finanziell zu unterstützen. Zudem habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Stadtzürcher Spielplätze barrierefrei werden, dass die Stadt den Wildwuchs von E-Scooters in den Griff bekommt, und dass es Unterstützungsleistungen gibt für Menschen mit Behinderungen, die Aus- und Weiterbildungen machen möchten.

Nach nur einem Jahr im Gemeinderat planst du schon den grossen Schritt in den Nationalrat. Warum?

Auf der Ebene, auf der ich heute politisiere, muss ich sehr kreativ sein, um innerhalb der Stadt Zürich etwas für mehr Inklusion zu erreichen. Denn eigentlich ist die Behindertenpolitik in erster Linie kantonal und national geregelt. Deshalb kandidiere ich für den Nationalrat. Dort kann man die grossen Hebel betätigen, um die Themen zu bewegen, die mich und 1.7 Millionen Menschen mit Behinderungen beschäftigen.

Bist du ehrgeizig?

Eigentlich nicht, aber aufgrund meines politischen Engagements musste ich einen Ehrgeiz entwickeln. Ende Jahr läuft zum Beispiel die Frist ab, in der das Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 umgesetzt sein sollte. Doch wir sind bei weitem nicht so weit, wie wir es sein sollten. 90 Prozent des öffentlichen Verkehrs sind beispielsweise noch nicht barrierefrei. Ich will, dass sich etwas verändert – und zwar nicht in zehn bis zwanzig Jahren, sondern heute.

Ist Islam Alijaj ein Einthemapolitiker?

Das höre ich öfter, aber diese Kritik ist unfair. Behindertenpolitik ist kein Nischenthema, es ist ein Querschnittthema. Heute verkennen viele die Bedeutung der Behindertenpolitik. Nehmen wir nur die unbezahlte Care-Arbeit, über die wir Linken gerne reden. Das betrifft zu einem grossen Teil Angehörige von Menschen mit Behinderungen. Meine Frau leistet fast 100% Care-Arbeit, um mein Engagement zu ermöglichen. Oder schauen wir auf die Verkehrspolitik: Eine unserer zentralen Forderungen sind autofreie Innenstädte. Doch ohne einen barrierefreien öV wird es die nicht geben. Meinen Assistentinnen – die ich notabene brauche um ein Amt als gewählter Parlamentarier auszuüben – kann ich nur 26 Franken pro Stunde bezahlen. Und da sind wir dann beim Thema faire Löhne. Mir wäre auch lieber, ich könnte zu Bildungs- und Wirtschaftsthemen politisieren. Aber die Baustellen in der Behindertenpolitik sind so gross und komplex, dass ich meine begrenzte Zeit und Energie da einsetzen muss.

Du hast kosovarische Wurzeln. Siehst du dich auch als Vertreter der albanischen  Community in der Schweiz?

Ich werde in erster Linie als Mensch mit Behinderung wahrgenommen, nicht als Mensch mit kosovarischen Wurzeln. Ironischerweise hat mich das auch vor gewissen fremdenfeindlichen Angriffen geschützt. Meine Behinderung überschattet alles. Aber ja, natürlich bin ich mit meinem Hintergrund Vertreter der albanischen Community – und wäre auch der erste Nationalrat, mit kosovo-albanischen Wurzeln überhaupt.

Im Interview mit dem Onlinemagazin «Tsüri» hast du gesagt, wenn du nicht behindert wärst, wärst du vielleicht in der FDP gelandet. Kannst du das erklären?

Mit der Aussage wollte ich eine Diskussion anregen über Privilegien. Viele privilegierte Männer machen Kohle, machen die Umwelt kaputt und bezahlen keine Steuern. Sie glauben, sie können einfach machen, was sie wollen. Durch meine Lebensrealität als Mensch mit Behinderungen sehe ich die Welt anders. Und ich weiss einfach nicht, was politisch aus mir geworden wäre, wenn ich auch von diesen Privilegien profitiert hätte. Für mich ist klar: Die SP ist der Schlüssel zu einer inklusiven Gesellschaft, weil sie unterschiedliche Lebensrealitäten anerkennt und sichtbar macht. Unser heutiges System ist nicht gerecht. Deshalb bin ich in der SP. Die SP spricht zwar meistens von einer solidarischen Gesellschaft, aber eigentlich meinen wir eine inklusive Gesellschaft – eine, in der jeder Mensch sein Potenzial entfalten kann. Aber: Auch die Sozialdemokratie ist noch nicht am Ziel. Wir müssen uns von gewissen Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen befreien. Immerhin wäre ich der erste Nationalrat unserer Inklusionspartei, der selbst ein Mensch mit Behinderungen ist.

Was machst du im Wahlkampf anders als vor vier Jahren?

Dieses Jahr ist ein historisches Jahr für die Behindertenbewegung. Im Frühling fand die Behindertensession statt, wir haben die Inklusionsinitiative lanciert, und es gibt eine Behindertenlisten mit allen Kandidierenden mit Behinderung. Die Ausgangslage ist eine ganz andere als 2019: Die Stimmbevölkerung will Menschen mit Behinderungen wählen. Und dafür brauchen sie ein Angebot von ernsthaften Kandidaturen. Ich habe tatsächlich einen aussichtsreicheren Listenplatz als noch vor vier Jahren, weshalb ich viel mehr Unterstützung für meine Kandidatur generieren konnte. Zu meinem Wahlkampfauftakt im Mai kamen über 200 Menschen – das konnte ich kaum glauben.

Wie finden es deine Kinder, dass du nun so im Rampenlicht stehst?

Noch finden sie es cool. Sie leben quasi in zwei Realitäten: Für sie bin ich einfach der Papi, sie fahren gerne mit mir im Rollstuhl. Aber in der Schule werden sie immer öfter darauf angesprochen, wieso ihr Vater so komisch spricht. Sie merken, dass Behinderte nicht gleichwertig sind in unserer Gesellschaft. Ich habe wirklich Angst, dass ich irgendwann nicht mehr der coole Vater bin, sondern nur noch der behinderte Vater. Dass will ich verhindern. Wahrscheinlich kommt daher meine Energie.