Persönlich-Kolumne: Zwingli, mein Vorgänger?
Wer war eigentlich dieser Huldrych Zwingli, der als Vater der reformierten Kirche in Zürich gilt? Seit 500 Jahren gilt er als Spassbremse. «Zwinglianisch», das steht für prüde und lebensfeindlich, aber strebsam. Und damit für den Ruf, den wir in Zürich lange Zeit hatten.
Vergangene Woche starteten die ersten Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum. Ich wohnte am HB einer Veranstaltung bei, wir sprachen dort auch über soziale Verantwortung. Im Vorfeld las ich über Zwingli und entdeckte in ihm so etwas wie einen Amtsvorgänger von mir. Denn er war nicht nur ein Reformator des Religiösen, sondern auch des Sozialen. Vor der Reformation war die Armenpflege Sache der Kirche, vornehmlich der Klöster. Nach der Aufhebung der Klöster, gingen diese Aufgaben an den Staat über. Und der baute für damalige Verhältnisse das Sozialwesen kräftig aus. Heutige Institutionen wie die Sozialhilfe oder die Notschlafstelle kennen damalige historische Pendants.
Huldrych Zwingli formulierte es so: «Barmherzig und guttätig sein gegen Bedürftige – das sind die Pflichten nicht bloss der christlichen Kirche, sondern auch des Staates und der menschlichen Gesellschaft.» Und er fragte: «Was ist der Staat anderes als das eine Haus der Vielen?».
Mir gefällt dieses Bild, des Staates als Haus für die Gemeinschaft. In einem Haus nimmt man Rücksicht aufeinander und hilft sich gegenseitig so gut man kann. Ein Haus funktioniert nur, wenn sich einerseits alle an gewisse Grundregeln halten – und andererseits akzeptieren, dass jede und jeder so leben darf, wie sie oder er es will.
Zürich ist – 500 Jahre nach Zwingli – mehr denn je ein Haus der Vielen.